Ich hatte den Herrn Dr. Selzsam, seines Zeichens glühender Anhänger des einzig wahren Hamburger Fußballclubs, gebeten, doch bitte mal die zehn besten Argumente für regelmäßige Stadionbesuche bei seinem Lieblingsverein vom Kiez aufzulisten. Herausgekommen ist die folgende Liebeserklärung an Braun-Weiß, die ich äußerst überzeugend finde. Danke übrigens auch für die Blumen im Prolog, lieber Doktor!
Der Sofa-Experte Jensen siedelt demnächst von Bremen nach Hamburg über. Links der Weser ist das natürlich ein schmerzlicher Verlust, doch die Elbestadt kann sich freuen. Fußballtechnisch dürfte für die Hamburger dann auch etwas zu verdienen sein, denn ganz ohne Stadionbesuche in der künftigen Wahl-Heimatstadt wird der Gute wohl kaum auskommen. Wo er nicht hingeht, ist nicht zuletzt aufgrund des Gestanks der nahen Müllverbrennungsanlage bereits klar. Doch damit Jensen am Ende nicht bei Altona oder Eintracht Norderstedt landet, werde ich hier mal die zehn wichtigsten Gründe für regelmäßige Besuche am Millerntor bereitstellen. Aus tiefer Überzeugung und großer Wehmut übrigens, doch das ist eine andere Geschichte. Also los:
Nummer 10: Die Ruhe
Am vergangenen Spieltag haben die Hamburger Fans, wie auch ihre Kollegen aus Freiburg, gezeigt, dass sie durchaus schweigen können. Das ganze war zwar nur eine Aktion gegen fanfeindliche Anstoßzeiten, aber dennoch: Auf einen regelmäßigen Weserstadion-Besucher muss diese Ruhe heimisch wirken. Das Potential zur Schweigsamkeit dürfte daher bei der Eingewöhnung am Millerntor sehr hilfreich sein und liefert den ersten Pluspunkt.
Nummer 9: Das Sofa
Jensen ist Sofa-Experte. Am Millerntor werden in den kommenden Jahren nach Plan des „Fan-Präsidenten“ Cornelius Littmann ganz unzotig „Separées“ getaufte Logen eingerichtet, in denen man auch halb wohnen können soll. Für ein Sofa ist da natürlich auch Platz. Der Vorteil liegt auf der Hand.
Nummer 8: Die Wärme
Nach dem Aufstieg hat sich der FC Sankt Pauli eine Rasenheizung gegönnt. Das bedeutet: Nie wieder Eis und Schnee. Soweit ich mich erinnere, war das ja besonders für Bremer ein ganz wichtiger Punkt bei der Entwicklung des Fußballsports auf Sankt Pauli.
Nummer 7: Der Antifaschismus
Was Werders Fanszene am vergangenen Spieltag völlig zurecht viel Lob eingebracht hat, wird bei Sankt Pauli bekanntermaßen schon länger praktiziert: Nazis müssen draußen bleiben. Und zum Eigenschutz auch besser auf etwas Abstand vom Stadtteil… Der Vorteil für Jensen am Millerntor: Wenn es doch mal einen Zwischenfall gibt, regelt sich das in der Regel ohne dass der Fanbetreuer die Polizei ruft, die dann die eigenen Leute mit Pfefferspray eindeckt. Der Vorteil ist im wahrsten Sinne des Wortes augenscheinlich.
Nummer 6: Erfolgsfanfreiheit
Auch wenn es in letzter Zeit steil bergauf ging mit dem magischen FC, Platz sieben in Liga zwei und das sträfliche Fehlen von Lechner, Sako und Co. in Doppelpass-Runden, in Panini-Sammel-Alben und auf Bravo-Sport-Postern hält die Erfolgsfangemeinde auf Abstand. Auch nach vier Auswärtsniederlagen in Folge fordern daher immer noch die wenigsten die sofortige Köpfung des gesamten Trainer-Teams. Hat was Entspannendes.
Nummer 5: Die Abwechslung
Auch wenn der Spielbetrieb in Liga zwei den Champions League verwöhnten Fan nicht immer direkt zu 90-minütigen Jubelstürmen hinreißt, ist ein Besuch am Millerntor immer mit großer Spannung verbunden. Welche Tribünenteile sind wohl in den letzten zwei Wochen dazu gekommen? Wo fährt der „Fan-Präsident“ diesmal medienwirksam mit dem Abriss-Bagger vor, obwohl die Verträge für die neue Tribüne noch längst nicht stehen, wo reckt sich das nächste Stahlrohr-Monster von Kurve in den Hamburger Himmel? Wer da nicht aufgeregt ist…
Nummer 4: Das Bier
Hat Herz. Schmeckt. Und gibt es noch ohne eigene Stadionwährung. Auch wenn das knapp war.
Nummer 3: Die Ölsardine
Heute kann es regnen, stürmen oder schneien, denn du bist ja selbst schon – warm wie Sonnenschein. Wie das kommt? Nachdem der FC Sankt Pauli 2005/2006 eine recht erfolgreiche Saison im DFB-Pokal spielte, fiel einigen Fernsehzuschauern mit DFB-Funktion auf, dass in der elektrisierten Masse gar keine Schneisen zu erkennen waren. Seitdem wurde der Verein gezwungen, die Aufgänge freizuhalten. Seitdem haben sich im Stadion zwei Dinge geändert: Es gibt mehr Ordner und weniger Platz zum Stehen. Gerade bei den besser besuchten Spielen, also im Prinzip bei allen, die keine Freundschafts- oder U-18-Länderspiele sind, erzeugt die Nähe zum bisher meist unbekannten Nachbarn daher nicht nur soziale Wärme. Mit etwas Glück lässt sich so auch noch die ein oder andere legale bis semilegale Droge konsumieren – als Dusche oder als Schwade.
Nummer 2: Der Totenkopf
Auch wenn Spätaussiedler aus ehemaligen Sowjetrepubliken aufgrund des von der Hausbesetzerszene ins Stadion geschleppten Symbols der Freibeuter der Liga teilweise noch heute eine Verbindung zur SS vermuten, haben sich die Kleidungsstücke in Alltag und alternativen Stadtteil- und Musiksümpfen bestens bewährt. Damit auf zu linken Pfaden zu wandeln, braucht aber niemand befürchten. Das Logo wurde wie alle Merchandising-Artikel zu 90 Prozent an eine Vermarktungsagentur verkauft, die das Symbol der Rebellion nach den Regeln des Marktes politisch korrekt kapitalisiert. Che Guevara lacht auch gern von Fanutensilien, selbst kubanische Nationalflaggen haben es inzwischen in die Höhle der Anti-Nationalen geschafft. Das nennt man dann Kult.
Nummer 1: Die Fans
Trotz allem Kult und aller Ironie zum Schluss doch noch die Liebeserklärung. Denn es gibt auch wirklich noch viele Gute im und am Millerntor. Bekloppte Abendblatt-Bye-Bye-Bayern-Winkehände mit eigenen Bye-Bye-Littmann-Winkern zu kontern, ein Fanbetreuer, der zusammen mit dem Stadion-Sicherheitschef mangels versagter Polizei-Unterstützung zu zweit in den Chemnitzer Fanblock geht, um eine Nazi-Fahne abzumontieren, ein Sport- und Softporno-Sender, der sich über seinen Sprecher aus verletztem Stolz über Fanproteste gegen von ihm initiierte Spieltagszerstückelungen in der lokalen Boulevard-Presse ausheult, ein organisierter Fanmarsch mit 8000 Menschen gegen eine Polizei-Aktion gegen den Fanladen und jedes Heimspiel eine riesige Choreo – all das hat schon was. Und wenn auswärts ein paar faschistoide Rostocker hupen, hagelt’s auch mal Gürtel. Das ist mein Sankt Pauli. Wer Fußball mag, wer Fankultur ohne Atzengeballer mag und wer Emotionen mag, der ist hier richtig. Also lass es dir nicht entgehen, Jensen!
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3 Kommentare:
Ich muss da noch mal kurz anmerken, dass es auch auf der anderen Weser-Seite mindestens zwei Leute gibt, die den "Verlust" Jensens sehr schmerzlich finden!
Man gut, dass die verbotene Stadt nicht allzuweit weg ist... ganz im Gegensatz zu dem Ort an dem sich der Dr gerade aufhält.
Wenn ihr so weitermacht mit den Sentimentalitäten, fange ich noch an zu weinen. Also aufhören, sofort, zack zack und sowieso!
*schnüff*
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